Der August 1914 und heute

Von Michelle Rasmussen

Buchbesprechung. "The Guns of August" (deutsche Ausgabe: "August 1914"), von Barbara W. Tuchman, erschienen im Januar 1962. Lyndon LaRouche hatte seine Presseerklärung, in der er vor Cheneys Kriegsplänen warnte, mit "Stoppt die 'Guns of August'" überschrieben.


Die Geopolitik Eduards VII.
War der Krieg unvermeidlich?

Guns of August, Kennedy und die Kuba-Krise

 

Ein Sprichwort sagt, wer nicht aus der Geschichte lernt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Das ist nicht ganz richtig, denn jede geschichtliche Periode hat ihre besonderen Eigenheiten, beispielsweise hinsichtlich der Kultur, der wirtschaftlichen Gegebenheiten, der politischen Landschaft und des Charakters der führenden Persönlichkeiten - Lyndon LaRouche nennt dies Phänomen "historische Spezifität".

Aber wenn wir Geschichte als Drama betrachten, können wir, wie Schiller in seiner Schrift Das Theater als moralische Anstalt schreibt, aus der Tragödie lernen, die sich auf der Bühne vor unseren Augen entfaltet, und als bessere Menschen das Theater verlassen. Wir können die besonderen Momente, sozusagen die springenden Punkte erkennen, wo die Geschichte sich in eine andere Richtung gewendet hätte, wenn sich die Protagonisten anders verhalten hätten. Und wir können begreifen, welch persönlicher Mut erforderlich ist, um in einen geschichtlichen Prozeß so einzugreifen, daß man ihn verändert - etwa wenn die Entwicklung immer schneller auf eine Tragödie wie einen großen Krieg hinsteuert - wie man handeln muß, wenn man die Kriegstrommel hört, um sie hoffentlich auf immer zum Schweigen zu bringen.

Am 27. Juli dieses Jahres überschrieb Lyndon LaRouche seine Warnungen vor einem Präventivkrieg gegen den Iran, bei dem auch Kernwaffen zum Einsatz kommen könnten, mit "Stoppt Cheneys 'Kanonen des August'". Damit setzte er eine deutliche Metapher ein, um eine Mobilisierung gegen einen solchen Krieg in Gang zu setzen.

Das Buch Guns of August - deutsche Ausgabe August 1914 - der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman liefert eine einsichtsvolle Darstellung vieler der Faktoren, die zum Ersten Weltkrieg führten. Tuchman zeigt im einzelnen, wie dieser "große Krieg" am 1. August 1914 ausbrach: als Folge geopolitischer Strategien, militärischer Notwendigkeiten, falscher Grundannahmen, Fehleinschätzungen, Realitätsverleugnung und politischer Feigheit. Damit zeigt sie teils unausgesprochen, oft auch ausdrücklich, wie dieser Krieg und besonders sein tragisches Ausmaß hätten vermieden werden können.

Das Buch erschien im Januar 1962 und nahm rasch selbst Einfluß auf die Geschichte. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy und Mitglieder seiner Regierung lasen das Buch kurz vor dem Ausbruch der Kubakrise im Oktober desselben Jahres. Und die Schlußfolgerungen, die sie daraus zogen, ermöglichten es ihnen, erfolgreich durch die gefährlichen Wasser der damaligen Krise zu navigieren und eine Eskalation bis zum Atomkrieg mit der Sowjetunion zu vermeiden.

 

 

Die Geopolitik Eduards VII.

Die Trauerprozession für den britischen König Eduard VII., vier Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, bildet die farbenprächtige Eingangsszene des Buches. Zu den prominentesten Trauergästen gehört der deutsche Kaiser Wilhelm II., Eduards Neffe und Erzfeind. Von der Beisetzung als Bezugspunkt ausgehend schildert Tuchman, wie nun ein geopolitisches Minenfeld entstand, in dem ein falscher Schritt alles zur Explosion bringen konnte.

Das Buch liefert viele Details zur Untermauerung von LaRouches Einschätzung: daß Eduard VII. das Drehbuch zum Krieg schrieb, aber der Drei-Kaiser-Bund aus Kaiser Wilhelm ("Willy"), Zar Nikolaus II. von Rußland ("Nicky", auch ein Neffe Eduards und Cousin Wilhelms) und dem österreichischen Kaiser sowie die Franzosen alle bereitwillig die ihnen zugewiesenen Rollen spielten.

Tuchman erläutert, wie Eduard und Lord Palmerston systematisch darauf hinarbeiteten, zu einem Einvernehmen mit ihren Erzrivalen Frankreich und Rußland zu kommen und Pufferzonen (wie etwa das unabhängige Belgien) zu errichten, um sicherzustellen, daß niemals andere Mächte oder Bündnisse britische Interessen gefährden können.

Kaiser Wilhelm durchschaute Eduards Einkreisungsstrategie durch die sog. Tripelentente zwischen England, Frankreich und Rußland, sah aber für Deutschland keine andere Möglichkeit als einen Krieg, um diese Eindämmung zu durchbrechen, nachdem seine Versuche gescheitert waren, Deutschland mit Rußland oder Frankreich zu verbünden.

Als Wilhelm von seinem Botschafter über die Verhandlungen zwischen Eduard und Nikolaus informiert wurde, kritzelte er an den Rand des Berichts: "Er will Krieg. Aber ich soll ihn anfangen, damit das Odium nicht auf ihn kommt." Und wenige Tage vor Ausbruch des Krieges erklärte er: "Leichtsinn und Schwäche sollen die Welt in den furchtbarsten Krieg stürzen, der auf den Untergang Deutschlands abzielt... England, Rußland und Frankreich haben sich verabredet... gegen uns den Vernichtungskrieg zu führen... Das ist in nuce die wahre, nackte Situation, die langsam und sicher durch Eduard eingefädelt, fortgeführt wurde. Die Einkreisung Deutschlands ist also Tatsache geworden... Das Netz ist uns plötzlich über dem Kopf zugezogen... Eduard VII. ist nach seinem Tode noch stärker als ich, der ich lebe."

 

 

War der Krieg unvermeidlich?

Alle hörten die Kriegstrommeln und bereiteten sich mit unterschiedlicher Effektivität vor - aber niemandem gelang es, sie zum Schweigen zu bringen. Tuchman macht das Paradox deutlich, daß der Krieg und insbesondere die Intensität und die Dauer des Krieges nicht unvermeidlich gewesen wären, hätten sich bestimmte maßgebliche Personen anders verhalten. Hier einige Beispiele, die sie nennt.

Als der designierte französische Oberkommandierende General Michel das wesentliche Konzept des Schlieffen-Plans - den Angriff auf den westlichen Teil Frankreichs durch das neutrale Belgien - durchschaut hatte, schlug er eine Verteidigungsstrategie vor. Die Folge war, daß er sofort entlassen wurde, weil sein Konzept gegen die vorherrschende französische Militärtradition verstieß.

Der Krieg mit Frankreich hätte vielleicht sogar ganz vermieden werden können, wenn Deutschland den beiden französischen Provinzen Elsaß und Lothringen, die es nach dem preußisch-französischen Krieg 1870/71 annektiert hatte, Autonomie gewährt hätte.

Auch hätte Generalstabschef Gen. Moltke, der Jüngere, die Geschichte des 20. Jahrhunderts verändern können, wenn er den Amordnungen des Kaisers, der in letzter Minute die Invasion noch abblasen wollte, gefolgt wäre. Tuchman beschreibt höchst anschaulich, wie Kaiser Wilhelm am 1. August einen Boten sandte, der Moltke, der schon unterwegs war, um die Befehle für den Angriff zu geben, wieder zurückholte. Der Kaiser las Moltke ein Telegramm Lichnowskys vor, in dem dieser erklärte, der britische Außenminister Grey habe durchblicken lassen, England bleibe in einem russisch-deutschen Krieg neutral, wenn Frankreich nicht angegriffen werde - wie sich später herausstellte, war das ein Mißverständnis.1 Wilhelm fragte Moltke, ob dieser die Armee noch nach Osten umdirigieren könne - eine Stunde, bevor die ersten deutschen Soldaten einen Bahnhof in Luxemburg angreifen sollten.

Moltke erklärte fassungslos, das sei unmöglich. "Der Aufmarsch eines Millionenheeres lasse sich nicht improvisieren", habe er geantwortet, berichtete Moltke später. Der Aufmarsch "sei das Ergebnis einer vollen, mühsamen Jahresarbeit. Wenn Seine Majestät darauf bestehen, das ganze Heer nach dem Osten zu führen, so würden dieselben kein schlagfertiges Heer, sondern einen wüsten Haufen ungeordneter bewaffneter Menschen ohne Verpflegung haben." Und dann habe Moltke, so schreibt Tuchman weiter, jene Redensart vorgebracht, "die immer unausweichlich dann erklingt, wenn militärische Planung die Politik diktiert: 'Und da es nun einmal so beschlossen ist, kann es nicht mehr geändert werden.'"

In Wirklichkeit hätte der Marschbefehl durchaus geändert werden können. Der Chef der Eisenbahnabteilung, Gen. von Staab, belegte nach dem Krieg in einem Buch, daß eine Umgruppierung möglich gewesen wäre. Und auch Moltke räumte sechs Monate später ein, er habe einen Fehler gemacht. (Damit soll natürlich nicht der Eindruck erweckt werden, ein Krieg "nur" zwischen Rußland und Deutschland sei in Ordnung gewesen, denn es entsprach immer der britischen Strategie, die beiden rivalisierenden Länder gegeneinander zu hetzen.)

LaRouche erläuterte in einem vor kurzem veröffentlichten Aufsatz, daß diejenigen, die Krieg wollen, um ihre politischen oder wirtschaftlichen Ziele voranzutreiben, den Gedanken verbreiten, ein Krieg sei unvermeidlich. Unter gewissen Umständen wird für die herrschende Finanzoligarchie der Frieden bedrohlicher als der schrecklichste Krieg. Im Fall des Ersten Weltkrieges bezog sich die Sorge in London darauf, daß sich die Wirtschaftspolitik des Amerikanischen Systems von Deutschland auf den Rest des Kontinents einschließlich Rußlands ausbreiten könnte. Und sie fürchtete, es könnte sich eine friedliche transkontinentale wirtschaftliche Zusammenarbeit entwickeln. Dies war der Grund der geopolitischen Machenschaften, die letztlich zum Ersten Weltkrieg führten. Das war die strategische Umgebung, die mutige Individuen hätten grundlegend verändern müssen. Tuchman selbst stellt den wirtschaftlichen Aspekt nicht so in den Vordergrund wie LaRouche.

Die genannten und andere Beispiele - wie sich niemand dem Kriegsausbruch in den Weg stellte, oder wenn er es versuchte, wie Jean Jaurès in Frankreich, sogar ermordet wurde - , die Tuchman in ihrem Buch anschaulich in ihrer Dramatik entwickelt, und die Schilderung, wie sich dann der Krieg zum Weltkrieg ausweitete, das hat beispielsweise Präsident John F. Kennedy nachhaltig beeindruckt. Er erkannte in der Kubakrise, daß es notwendig war, neben den militärischen Strategien, die ihm seine Militärs vorlegten, auch andere Strategien auszuarbeiten.

Tuchman schreibt, im August 1914 habe eine allgemeine Bedrohung in der Luft gelegen. Diesem Eindruck habe sich niemand entziehen können. Und Robert K. Massie schrieb in einem Vorwort zu einer vor kurzem veröffentlichten Neuausgabe ihres Buches: Tuchman "hoffte, daß Menschen, die ihr Buch lesen, diese Warnung beherzigen, diese Fehler vermeiden und sich etwas besser verhalten. Dieses Anliegen und die Lehren beeinflußten Präsidenten und Ministerpräsidenten sowie Millionen normaler Leser."

 

 

Guns of August, Kennedy und die Kuba-Krise

Kennedy und andere führende Mitglieder seiner Regierung lasen Tuchmans Buch wenige Monate vor dem Ausbruch der Krise, die mit der amerikanischen Entdeckung russischer Raketenstellungen auf Kuba ihren Anfang nahm. Und als sich der Konflikt weiter verschärfte, waren sie sich der Gefahren bewußt, die mit dem Rühren der Kriegstrommeln verbunden waren.

Wie Robert Kennedy in seinem Buch Dreizehn Tage - eine Erinnerung an die Kubakrise schreibt, kritisierte John F. Kennedy entschieden die "Dummheit, individuelle Ideosynkrasie, Mißverständnisse und persönlichen Gefühle von Minderwertigkeit und Ehre" der führenden europäischen Politiker in der Phase kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. "Ich will keinen Kurs einschlagen", sagte er herausfordernd, "der jemanden dazu anreizt, ein vergleichbares Buch - Die Raketen des Oktober - über unsere Zeit zu schreiben: Wenn jemand später einmal ein Buch darüber schreibt, wird man verstehen, daß wir alles unternommen haben, um ihnen [den Russen] Manövrierraum zu lassen. Ich werde die Russen keinen Zentimeter weiter drängen, als nötig ist."

Während der Kubakrise bat der sowjetische Botschafter in den USA Dobrynin den amerikanischen Sonderbotschafter Bowles um ein Gespräch. In einem Bericht über dieses Treffen an Kennedy2 schildert Bowles, er habe mit Dobrynin über die Einschätzung der amerikanischen Sowjetexperten diskutiert, die vermuteten, bei der Raketenkrise handele es sich um ein Ablenkungsmanöver der Russen. Dies seien gefährliche Spielchen, die katastrophale Folgen haben könnten. Bowles schreibt: "Ich fragte Dobrynin, ob er The Guns of August gelesen habe. Er entgegnete, nur eine dreiseitige Zusammenfassung. Daraufhin bat ich ihn, die ersten Kapitel zu lesen. Er werde dort ein Muster politisch-militärischen Handelns und entsprechender Gegenreaktionen erkennen, das sich in den kommenden sechs Monaten wiederholen könnte."

Tuchmans Buch zeigt, daß die Entwicklung der Ereignisse, die in den Ersten Weltkrieg mündeten, nicht unvermeidbar gewesen wäre, hätten Menschen guten Willens mutig eingegriffen, um das "Unvermeidliche" zu vermeiden. John und Robert Kennedy und ihrer Fraktion gelang es, politische und diplomatische Alternativen zu einem Kurs durchzusetzen, den eine Gruppe des amerikanischen Militärs forderte und der direkt in einen Atomkrieg hätte münden können. Nach der Krise überreichte Kennedy dem britischen Premierminister Macmillan Tuchmans Buch und bemerkte, der Westen müsse noch einiges von den Lehren des August 1914 lernen.

Da wir uns auch heute einer Kriegspartei im Weißen Haus gegenübersehen, die auch vor einem Atomkrieg gegen den Iran nicht zurückschreckt, müssen wir mit allen Mitteln versuchen, die Kriegstrommeln zum Schweigen zu bringen. Helga Zepp-LaRouche und die BüSo haben im Bundestagswahlkampf in Deutschland die Verhinderung dieses Krieges zu einem zentralen Thema ihres Wahlkampfes gemacht. Auch Bundeskanzler Schröder hat sich eindeutig gegen einen solchen Krieg ausgesprochen. Werden wir aus der Geschichte lernen?

 


Anmerkungen

1. England hatte angeboten, Deutschland keinen Krieg zu erklären, wenn Deutschland seinerseits darauf verzichte, Frankreich und Rußland anzugreifen.

2. Das Geheimmemorandum von Botschafter Bowles an Präsident Kennedy vom 13. Oktober 1962 ist im Internet einzusehen unter www.mtholyoke.edu/acad/intrel/bowles.htm